Manchmal überlassen die Ink Rebels ihre Büroräume vollständig den Praktikanten und gehen mit dem Rudel Bürohunde spazieren. So wie heute zum Beispiel. Nach einem Zwischenstopp in dem Fair-Trade-Café (denn ohne Kaffee hält Julia keine halbe Stunde lang durch, und sie besteht bockig auf fair trade) schlendern wir durch den herbstlichen Park. Rote und leuchtend orangefarbene Blätter bedecken den Kiesweg, der kleine Teich spiegelt die beginnende Dämmerung. Kira lässt einen Stein über das Wasser springen. Also, sie versucht es. Er sinkt sofort wie ein … na ja, wie ein Stein eben. Abby und Seal springen begeistert hinterher, Selma und Tatze schütteln nur verständnislos die Ohren. Sie haben die Badesaison längst für beendet erklärt.
Wir schweigen, jede in ihre eigenen Gedanken vertieft.
Der Park ist klein, genau genommen winzig, und nach drei Runden um den wirklich nicht sehr spannenden Teich biegen wir ab, rufen die Hunde ran und schlendern nun durch eine Wohngegend. Glatt asphaltierte Straßen, großzügige Einfamilienhäuser, Vorgärten, in denen Dahlien und Astern blühen. Am Straßenrand parken Autos. Sonst ist es ruhig, nur gelegentlich begegnen wir anderen Spaziergängern.
“Genau so habe ich mir Tonis Wohngegend in Es war einmal Aleppo vorgestellt”, sagt Franzi in unser Schweigen hinein.
“Ja, ich auch.” Julia nickt und entsorgt ihren Kaffeebecher in einen ordentlich aufgehängten Mülleimer. “Und das dort drüben”, sie deutet auf ein Gemeindehaus mit Spielplatz, “könnte der ehemalige Tennisclub sein, in dem das Flüchtlingslager untergebracht ist.”
Plötzlich sehen wir es alle. Die Sichtschutzzäune um das Gelände herum, direkt gegenüber ein geräumiges, weiß gestrichenes Haus. Gerade läuft ein sechzehnjähriges Mädchen durch den Vorgarten, sie trägt kurze Jeans und ein Shirt, die Sonne scheint. Kein einziges Herbstblatt liegt mehr auf dem Boden.
“Kommt das hin?”, fragt Daniela. “Sieht es wirklich so aus wie hier, Jenny? Oder hast du ein ganz anderes Vorbild?”
Jenny nickt. Die alte Frau da hinten hat zwar einen Mops an der Leine und keinen Yorkshire-Terrier, aber ansonsten stimmt alles überein.
Daniela nagt an ihrer Unterlippe. Fast schämt sie sich ein bisschen, aber dann gibt sie es zu: “Ich war ehrlich gesagt noch nie in einem Flüchtlingsheim. Ist es richtig, dass dich ein echtes Camp dazu inspiriert hat, Aleppo zu schreiben?”
“Viele”, sagt Jenny und grinst bei der Erinnerung, wie sie im letzten Sommer spontan Deutschkurse gab und etwas später von Notunterkunft zu Notunterkunft tingelte, um mit geflüchteten Menschen über deren Geschichten zu reden.
“Wie geht es dir mittlerweile mit dem Buch?”, will Kira wissen. Sie erinnert sich noch, wie niedergeschlagen Jenny direkt nach der Veröffentlichung war.
“Gut, ehrlich gesagt. Die Zweifel sind natürlich noch da. Es sind immer noch wahre Geschichten, die ich versucht habe, möglichst unterhaltsam aufzuarbeiten. Das muss vermutlich kneifen. Aber ich bin ganz froh, dass die Zweifel da sind – sie halten mich davon ab, zu große Fehler zu machen.”
“Was denn für Fehler?”, hakt Kira nach. “Zu große noch dazu? Würdest du dir wünschen, so nach den ersten Reaktionen, du hättest noch etwas hinzugefügt oder weggelassen?”
Jenny legt den Kopf schief. “Eigentlich nicht, nein. Ich bekomme gerade viele Nachrichten von Lesern, die etwas genauer wissen und noch tiefer einsteigen wollen. In solchen Momenten denke ich mir, dass ich das im Buch hätte weiterführen können. Aber dann fällt mein Blick auf diesen gewaltigen Stapel Papier und ich bin froh, es bei 500 Seiten belassen zu haben.” Sie kratzt sich im Nacken. “Ich bin ja nun auch nicht die Einzige, die ein Buch darüber geschrieben hat, und freue mich sehr, wenn meins die Leser anregt, sich mehr Informationen zu holen.”
“Wie fielen denn eigentlich die Reaktionen der Menschen aus, über die du geschrieben hast?” Kira überlegt. “Ich stelle mir vor, dass die Leute froh darüber waren, dass du über ihre Situation schreiben wolltest – oder waren da einige auch skeptisch? Und was sagen sie jetzt über das Buch?”
“Die meisten freuen sich über das Interesse und einige ackern sich tapfer durch und lesen es – so ein dicker Roman ist sehr anstrengend für jemanden, der gerade erst eine neue Sprache lernt. Viele finden es aber sehr nüchtern geschrieben.” Jenny grinst in sich hinein. “Die arabische Sprache ist halt sehr viel blumiger, vor allem in der Literatur. Viel mehr Herzchen.” Doch dann wird Jenny sehr ernst und beobachtet die Steinchen, die sie vor sich her kickt. “Ein paar haben mir zwar Fragen beantwortet, wollen aber nicht einmal auf Facebook mit mir befreundet sein, weil sie fürchten, erkannt zu werden, und weil sie noch immer Angst vor den syrischen Geheimdiensten haben. Daher habe ich auch alle realen Informationen verfremdet, bis in kleine Details. Wir gehen da kein Risiko ein.”
Julia schießt eins der Steinchen zurück. “Hast du nicht mal behauptet, du fändest moralische Jugendbücher blöd? Und jetzt steht in deinen Rezensionen was von ‘sollte Schullektüre werden’. Passt nicht, oder?”
Jenny rempelt Julia spielerisch an. “Tja, dann pass mal gut auf deine Texte auf – einmal nicht auf Zack und schon hältst du den falschen Finger in die Höhe. Ja, ist schon komisch, plötzlich so ein Buch *mit Aussage* auf dem Tisch zu haben. Aber wie das mit den Geschichten so ist: Als Autorin wirst du nicht gefragt – du wirst belagert und dann schreibst du halt, was geschrieben werden will. Und soo pädagogisch wertvoll ist die Aussage auch nicht, wenn ich die formuliere. Sie lautet einfach: ‘Sei kein Arschloch und urteile nicht, solange du dein Gegenüber nicht kennst.’ Was stimmt nicht mit der Welt, dass es nun schon Moral braucht, um kein Arschloch zu sein?”
“Wobei die meisten ja weniger aus Arschigkeit vorschnell urteilen als aus Angst, oder?”
“Macht es einen Unterschied?”, unterbricht Jenny Julia. “In dem Moment, wo ich einem anderen schade, indem ich ihn diskriminiere, nicht mehr.” Sie muss lachen. “Ich hab auch vor manchen Dingen Angst. Vor Libellen zum Beispiel. Das ist aber mein Problem, nicht das der Libellen! Grundsätzlich hast du aber recht. Viele Leute haben einfach keine Vorstellungen – oder falsche. So wie die Familie Welsch. Nun marschiert nicht jeder gleich zu den fremd aussehenden neuen Nachbarn hin, um sie kennenzulernen. Aber vielleicht fällt es leichter, Toni dorthin zu begleiten?”
“Wer war denn deine Toni?”, wirft Kira ein. “Oder eher deine gute Freundin Fee – hat dich auch jemand an die Hand genommen und hineinbegleitet?”
“Das waren ganz viele Personen. Es klingt etwas komisch, aber mein jüngster Sohn Bobby hat mir zu Anfang geholfen. Über ein Kind kommt man schnell ins Gespräch und die Offenheit kleiner Kinder ist eine große Inspiration. Wir können alle daraus lernen. Andere Ehrenamtler haben mir Mut gemacht. Aber die größte Unterstützung waren tatsächlich die Bewohner der Unterkunft selbst – ihre Freundlichkeit, ihre Offenheit, die selbstverständliche Gastfreundschaft, die mir entgegengebracht wurde, selbst wenn der eigene Bereich nur eine Pritsche umfasste. Die Gespräche über Der Herr der Ringe oder Harry Potter. Das gemeinsame Lachen. Es fiel mir nach den anfänglichen Zweifeln total leicht, mich wohlzufühlen.”
“Nachdem man Toni begleitet hat”, fragt Kira, “wie geht es dann außerhalb des Buchs weiter, wenn man nach der letzten Seite das Gefühl hat, man möchte etwas tun. Wie und wo fängt man an?”
“Wo es sich richtig anfühlt. Als mir eine Leserin schrieb, dass sie nach dem Lesen tatsächlich ins benachbarte Asylbewerberheim marschierte und stolz mit einem Ehrenamt wieder rauskam, habe ich mich natürlich total gefreut. Eine andere Leserin schrieb mir, dass das Buch ihr einen Zugang ermöglicht hat und sie sich jetzt mit weiterer Literatur mehr ins Thema einarbeiten möchte. Und eine dritte dankte mir per Mail, da sie nun den Hassreden eines Kollegen Argumente entgegensetzen kann. Das ist toll – aber auch die ganz kleinen Dinge können große Veränderungen bewirken. Eine syrische Freundin erzählte mir neulich sehr froh, von einer älteren Nachbarin zum ersten Mal mit einem Lächeln gegrüßt worden zu sein. Daraufhin hat die Syrerin sich endlich getraut, die Nachbarin zum Kaffee einzuladen. Es sind ganz einfache Dinge, die ein bisschen Glück verbreiten können.” Jenny sieht auf die Uhr. “Ups, jetzt habe ich völlig die Zeit vergessen. Gleich ist internationales Café.” Sie leint ihre Hunde an. “Ich lasse mir doch kein orientalisches Gebäck entgehen. Was ist mit euch? Kommt ihr mit?”
Natürlich kommen wir alle mit.